Social Networking scheint so etwas wie ein Heilmittel zu sein, um uns arme einsame Individuen nicht den Anschluss an die Gesellschaft verlieren zu lassen. Im Internet schießen die entsprechenden Plattformen wie Schwammerl aus dem Boden und wer nicht in der Isolation enden möchte, ist Mitglied bei Xing, LinkedIn oder ähnlichen Angeboten.
Aber warum werden wir dort Mitglied und was erwarten wir uns davon, bzw. was können wir uns davon erwarten? Um diese Frage beantworten zu können, lohnt es sich, sich mit dem Thema soziale Netzwerke zu beschäftigen. Die Zahl an Büchern, Websites oder auch Diplom- und Magisterarbeiten ist unüberschaubar. Auf der Suche nach Informationen hat es mir ein relativ alter Artikel angetan. Genauer gesagt ist er 15 Jahre alt, womit er quasi aus der Vorzeit des Internets stammt. Aber alt muss nicht schlecht heißen, ganz im Gegenteil.
Der Artikel trägt die Überschrift “Soziale Netzwerke sind anders” und wurde von Frank Boos, Alexander Exner und Barbara Heitger für die Zeitschrift für OrganisationsEntwicklung verfasst. Karsten Trebesch hat die wichtigsten Beiträge aus dieser Zeitschrift zu einem Buch zusammengefasst (“Soziale Netzwerke sind anders” findet sich dort auf den Seiten 65 bis 76), das unter dem Titel “Organisationsentwicklung” im Jahr 2000 bei Klett-Cotta erschienen ist.
Warum brauchen wir soziale Netzwerke?
In ihrem Beitrag stellen die AutorInnen fest, dass in unserer Gesellschaft, die immer mehr zur Individualisierung neigt, Netzwerke als Auffangnetze fungieren, da sie keine allzu enge oder verbindliche Bindung verlangen.
“Der Autonomiebedarf der einzelnen und das Anknüpfungsbedürfnis an andere geraten in eine zeitgemäße Balance” (S.65),
heißt es in der Einleitung. Netzwerke sind deshalb so wichtig, weil in unserer heutigen Gesellschaft, der “späten Informationsgesellschaft”, nicht mehr nur das ökonomische und das Wissenskapital, sondern auch das Beziehungskapital als wertvolles Gut eine hohe Bedeutung besitzt. Das heißt, trotz der fortschreitenden Individualisierung gibt es auch das Bestreben, Halt zu finden. Soziale Netzwerke, so die AutorInnen, bieten die entsprechenden Freiräume, ermöglichen aber auch “Verankerungen”. Damit seien sie in gewisser Weise die evolutionäre Weiterentwicklung der Gruppe,
“da sie das Face-to-face-Prinzip der Gruppe überwinden und die Möglichkeiten eines ‘Weltdorfs’ entstehen lassen”. (S.67f)
Für Boos, Exner und Heitger üben soziale Netzwerke folgende Funktionen aus:
- Auf gesellschaftlicher Ebene dienen sie “einerseits der sozialen Kontrolle, andererseits der Herausformung und Weiterentwicklung kollektiver Identitäten”. Da Netzwerke “quer über Funktionssysteme der Gesellschaft” laufen, besitzen sie darüber hinaus Integrationspotenzial.
- Auf organisatorischer Ebene tragen sie nicht nur dazu bei, innerhalb einer Organisation hierarchische Hürden zu überwinden, sondern auch zwischen verschiedenen Organisationen starre Grenzen aufzulösen.
- Auf individueller Ebene” sind sie ein Kompromiss zwischen Zugehörigkeits- und Einflussbedürfnissen (‘Heimat’) einerseits und Autonomie (sich für Zukünftiges offen halten) andererseits”.
Was sind soziale Netzwerke?
Für die AutorInnen stellen soziale Netzwerke keine sozialen Systeme dar, weil diese Grenzen gegenüber ihrer Umwelt haben:
“Erst diese Fähigkeit zur Grenzziehung ermöglicht es sozialen Systemen, innere Strukturen aufzubauen, beständige Beziehungen herzustellen und eine Identität zu entwickeln.” (S.69)
Über diese Grenzen verfügen soziale Netzwerke nicht. Darüber hinaus sind sie weder steuer-, noch kontrollierbar, weil sie aus einer Vielzahl von autonomen Knoten bestehen. Dennoch ist aber nicht alles, was irgendwie zusammenhängt gleich ein Netzwerk. Für Boos, Exner und Heitger zeichnen sich soziale Netzwerke durch folgende Merkmale aus:
- “die gemeinsame Intention – d.h. Orientierung an einem Thema;
- die Personenorientierung – dies bedeutet, dass die ganze Person einbezogen ist und Delegieren an andere (z.B. Stellvertreter) nicht wie in Organisationen möglich ist; Netzwerke orientieren sich nicht an Rollen oder Funktionen;
- die Freiwilligkeit der Teilnahme – da so etwas wie Netzwerksanktionen undenkbar ist, gibt es auch keine Rechte oder Pflichten;
- eine auf dem Tauschprinzip beruhende Beziehung: erwartete Tauschmöglichkeiten, die bei einem aktuellen Anlass realisiert werden.” (S.70)
Das bedeutet, die NetzwerkpartnerInnen verfügen über ein vorhandenes Beziehungspotenzial und eine gemeinsame Basisintention, die die Grundlage für fallweise Kooperationen darstellen. Für Boos, Exner und Heitger bedeutet das:
- “Netzwerke sind Beziehungen von (Beziehungs-)Optionen.
- Was in diesen Beziehungen (Energiebahnen) fließt, können verschiedene ‘Währungen’ sein: Macht, Geld, Information, Emotion. Dadurch können Netzwerke stärker an multiple Wirklichkeiten anknüpfen (…) als soziale Systeme mit ihrer ‘eingeschränkten Funktionalität’ dies können. Die Währungen sind sozusagen vielfach konvertierbar.
- Sie entsprechen damit der Mobilität und Elastizität von Beziehungen – der einzelne wird ‘zum Unternehmer seines Beziehungskapitals’. Das Paradoxe an Netzwerken ist, dass entferntere Relationen im Netzwerk mehr Optionen, Informationen oder Chancen bringen als nahe – nach dem Motto: Mir Fremde haben mehr Zugang zu mir fremden Optionen als z.B. meine nahen Freunde, die dieselben Leute kennen wie ich.” (S.71)
Das Hauptaugenmerk bei der Netzwerkarbeit gilt also dem Aufbau des Beziehungskapitals. Beziehungen müssen so gepflegt werden, dass sie im Bedarfsfall aktiviert und für eine Kooperation genutzt werden können.
Wie nutzen wir soziale Netzwerke?
Als TeilnehmerIn eines sozialen Netzwerks ist es meine Aufgabe, meine Beziehungen innerhalb des Netzwerks zu managen, um dieses Beziehungsgeflecht im Bedarfsfall aktivieren zu können. Für die AutorInnen heißt das: “Netzwerke handeln mit (potenziellen) Handlungen.”
Soziale Netzwerke werden dann für uns interessant, wenn wir in unserer Organisationsstruktur nicht mehr weiterkommen und an Grenzen stoßen. Mit ihrer Hilfe lassen sich Systeme verknüpfen, die von ihrer Struktur oder ihrem Wertesystem her völlig unterschiedlich sind. Für Organisationen bedeutet das Kontrollverlust, da, so die AutorInnen, “die lose Koppelung häufig als Bedrohung erlebt wird”.
Netzwerke funktionieren vor allem dann, wenn “Andersartigkeit” in ihnen zugelassen wird. Das mir Fremde wie es oben schon hieß bringt mir unter Umständen überraschende Optionen und eröffnet mir neue Chancen, um z.B. ein Geschäft zu realisieren. Genauso funktioniert übrigens Innovation.
Um von einem Netzwerk profitieren zu können, muss ich intervenieren. In einem Netzwerk zu intervenieren, heißt, Angebote zu machen. Wer nur darauf wartet, dass andere auf einen zugehen, wird von seinem Netzwerk nie profitieren können. Ein Angebot mache ich aber nur, wenn ich davon ausgehe, dass ich auch etwas dafür zurückbekomme. “Netzwerke funktionieren nur auf der Basis einer erwartbaren Wechselseitigkeit”, sagen die VerfasserInnen des Artikels. Die Erwartungshaltung, dass ich für mein Angebot eine Gegenleistung erhalten werde, ist die Grundvoraussetzung für den Erfolg eines Netzwerks. Andernfalls zerfällt das Netzwerk.
Boos, Exner und Heitger haben am Ende ihres Beitrags ein paar Handlungsanleitungen formuliert, um sich erfolgreich in sozialen Netzwerken bewegen zu können. Sie schreiben:
- “Man achte auf die Ausbalanciertheit der Beziehungen, bzw. vermehre den Nutzen seiner Partner.
- Man fördere Aktivitäten, die eine attraktive Zukunft seiner Netzwerkpartner unterstützen.
- Man beende Kontakte (auch mit Konkurrenten) im Netzwerk immer so, dass man später wieder daran anknüpfen kann.
- Man versuche, Dinge im Fluss zu halten, statt sie festzuhalten, d.h. zu dokumentieren oder formal zu entscheiden.
- Man konzipiere jede Intervention ins Netzwerk als Angebot, das auch abgelehnt werden kann.
- Man nutze Kontakte auch für die nicht anwesenden Dritten.” (S.75f)
Ihre Konklusio: “Netzwerke sind (…) anders, weil sie auf das Andersartige angewiesen sind.”
Für mich ergeben sich aus diesem Artikel vor allem zwei Konsequenzen:
- Das Wort Netzwerk sollte sehr viel vorsichtiger und bewusster verwendet werden. Wenn ich mir überlege, wie gedankenlos wir häufig in unseren Konzepten vom Aufbau von Netzwerken sprechen, dann wird vor dem Hintergrund dessen, was Boos, Exner und Heitger über soziale Netzwerke geschrieben haben, klar, warum die meisten Netzwerke nie zu wirklichen Netzwerken werden. Es fehlt meist die erwartbare Wechselseitigkeit. Ein Netzwerk, in dem z.B. KünstlerInnen ihre Kunstwerke präsentieren, funktioniert nur dann, wenn es jemanden gibt, der diese Kunstwerke wertschätzt bzw. sie in weiterer Folge auch kauft.
- Das bedeutet zweitens, dass Netzwerke für den Kunst- und Kulturbereich sich nicht auf denselbigen Bereich beschränken dürfen, sondern über ihn hinausgehen müssen. Ansonsten gelingt der Austausch nicht, so es nicht nur um den reinen Austausch von Wissen geht. Aber für den braucht man eigentlich kein Netzwerk.
Titelbild: Alina Grubnyak auf Unsplash
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