Die Schweizer Kulturstiftung hat ein Programm aufgelegt, das sich “echos – Volkskultur für morgen” nennt und im letzten Herbst für die Dauer von zwei Jahren gestartet wurde. Knapp ein Jahr nach dem Start wird der Begriff in einigen (Schweizer) Blogs diskutiert.
Vorweg meine Hochachtung vor der Schweiz, dass darüber überhaupt diskutiert wird. Als vor einigen Jahren hier in Österreich die schwarz-blaue Koalition an die Schalthebel der Macht gelangte, erlebte der Begriff der “Volkskultur” so etwas wie eine Renaissance. Was zur Folge hatte, dass Volksmusikgruppen, Trachten- und Schützenvereine sich plötzlich üppiger dotiert sahen als zuvor. Die Diskussionen, so man sie überhaupt als solche bezeichnen konnte, verliefen etwa so, wie wenn ein Fan des Musikantenstadl auf einen Gegner desselben trifft. Also, um es nett auszudrücken, unergiebig.
Zurück zu Schweiz: Schaut man sich die Startseite des Programms “echos” an, dann findet man dort gleich zu Beginn den folgenden Absatz:
In diesem Absatz wird meinem Verständnis nach ein Gegensatz zwischen der Tradition und der Gegenwart konstruiert, wofür dann in weiterer Folge stellvertretend die Volkskultur und die zeitgenössische Kunst stehen. In einem (vor ein paar Tagen) gestarteten und von Pro Helvetia finanzierten Blog versucht man darüber hinaus, den Begriff der Volkskultur zu präzisieren.
Thomas Antonietti zitiert in seinem Blogbeitrag “Volkskultur – Versuch einer Annäherung” Stefan Koslowski, der sich folgendermaßen geäußert hat:
“Unter ‚Volkskultur’ soll hier dasjenige kulturelle Schaffen verstanden werden, das sich bewusst an volkstümlichen Traditionen und Bräuchen der Schweiz orientiert. Das schliesst nicht aus, dass das gepflegte Repertoire ergänzt oder verändert wird.”
Ergänzend weist Antonietti darauf hin, dass
“die Volkskultur gemeinhin als Ensemble traditioneller, ländlich-bäuerlich geprägter Formen und Praktiken einer urbanen, industriellen Massenkultur gegenüber gestellt (wird).”
Auf dem Unkultur-Blog erschien kurz darauf ein Beitrag, in dem sich “Miss Unkultur” ihre “Gedanken zur Volkskultur” macht. In ihm wendet sie sich, wie ich finde zu Recht, gegen dieses Verständnis von Volkskultur, denn die Schweiz ist nicht nur ein fahnenschwingendes und jodelndes Volk, sondern weist sehr wohl auch “urbane und kosmopolitische Elemente” auf, wie sie schreibt. Das Ergebnis ihrer Auseinandersetzung formuliert sie dann so:
“Den Begriff Volkskultur sollte es so nicht mehr geben, denn er lässt sich nicht klar umreissen.”
Das sehe ich genauso, denn in meinen Augen handelt es sich hier um konstruierte Gegensätzlichkeiten, die es aufzulösen gilt.
Vielleicht sind Jan und Aleida Assmann dabei eine Hilfe. Das Ehepaar beschäftigt sich schon seit längerer Zeit mit dem Thema kulturelles Gedächtnis und bietet ein Modell an, das den Begriff der Volkskultur in der oben beschriebenen Weise überflüssig macht.
Jan und Aleida Assmann ergänzen das individuelle und das kollektive Gedächtnis noch durch das kulturelle Gedächtnis. Das kulturelle Gedächtnis ist nicht nur in uns Menschen angesiedelt, wie etwa das individuelle und das kollektive Gedächtnis, sondern es “objektiviert sich auch in Dingen wie Texten, Symbolen oder Bildern”, so Jan Assmann. Mit der Hilfe dieser Artefakte, wie beide es nennen, schützen sich die Gesellschaften vor dem Vergessen. Die Konservierung und Pflege der kulturellen Artefakte ist daher eine wichtige Voraussetzung für die Wirkungsweise unseres kulturellen Gedächtnisses.
Aleida Assmann unterscheidet dabei zwischen dem Speicher- und dem Funktionsgedächtnis. Das „Speichergedächtnis“ stellt in ihrer Definition eine Art kulturelles Archiv dar, in dem die materiellen Überreste vergangener Epochen aufbewahrt werden, zu denen wir den unmittelbaren Bezug verloren haben. Aleida Assmann spricht in diesem Zusammenhang von den „stummen Zeugen der Vergangenheit“, die dem Vergessen ausgeliefert sind.
Die im „Funktionsgedächtnis“ aufgehobenen Artefakte hingegen sind
„durch Verfahren der Auswahl und Kanonisierung hindurchgegangen, was ihnen einen Platz im aktiven und nicht nur passiven kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft sichert. Sie bleiben […] auf den Lehrplänen der Bildungsinstitutionen, auf den Spielplänen der Theater, in den Sälen der Museen, den Aufführungen der Konzerthallen und Programmen der Verlage. Was im Funktionsgedächtnis einer Gesellschaft gespeichert wird, hat Anspruch auf immer neue Aufführung, Ausstellung, Lektüre, Deutung, Auseinandersetzung. Solche beständige Pflege und Auseinandersetzung führt dazu, daß bestimmte kulturelle Artefakte eben nicht gänzlich verstummen, sondern über Generationen hinweg immer neu aufgenommen werden“ (Aleida Assmann in: „Von individuellen zu kollektiven Konstruktionen von Vergangenheit“).
Im Kontext des historischen Wandels sind die Artefakte einer ständigen Diskussion beziehungsweise Neudeutung unterworfen, da sie über die Generationen hinweg den jeweils aktuellen Bedürfnissen und Ansprüchen angepasst werden, so Assmann.
Vor diesem Hintergrund kann ich Martin Sebastian nicht zustimmen, wenn er in seinem Beitrag “Volkskultur – dank Moderne mehr Tradition” für den Blog-Volkskultur.ch fordert:
“Die Schweizer Volksmusik darf trotz Innovationen nicht verhunzt werden.”
Die Zukunft wird zeigen, was aus der Schweizer Volksmusik wird. Teile von ihr werden ins Archiv wandern und dort den Artefakten Gesellschaft leisten, die für uns bedeutungslos geworden sind. Und dann wird es die Volksmusik geben, die für unsere Gesellschaft Relevanz besitzt und die wir unseren aktuellen Bedürfnissen und Ansprüchen anpassen, wie Aleida Assmann schreibt. Und genauso verhält es sich mit allen anderen Formen von Kunst, egal ob sie der Volkskultur oder der zeitgenössischen Kunst zugeschrieben werden können.
Sehr viel interessanter ist damit die Frage, warum uns bestimmte Artefakte erhalten bleiben, welchen Wert sie für unsere Gesellschaft besitzen? Warum verehren wir Mozart und haben die meisten seiner Zeitgenossen vergessen? Warum besinnen wir uns gerade jetzt auf Traditionen, die schon in Vergessenheit geraten zu sein schienen?
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