Erinnerungen europäisches Kulturerbejahr delete memory

Delete Memory: Über das digitale Gedächtnis

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(Beitrag aktualisiert am 16. Juli 2018: Link zur Aufzeichnung hinzugefügt)

Vorgestern wurde es öffentlich gemacht, dass Jan und Aleida Assmann mit dem diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet werden sollen. Ich schätze das Forscherehepaar schon seit vielen Jahren, deren Werk, so heißt es in der Presseaussendung, „für die zeitgenössischen Debatten und im Besonderen für ein friedliches Zusammenleben auf der Welt von großer Bedeutung ist“. Aleida Assmann ist mir im Kontext einer Podiumsdiskussion eingefallen, die heute Abend (14. Juni 2018) um 19 Uhr im Wiener Radiokulturhaus des ORF (Argentinierstraße 30a, 1040 Wien, Studio 3) stattfindet (hier finden Sie die Einladung als PDF) und den Titel „Delete Memory“ trägt. Anne Aschenbrenner, Leiter Digitales bei der Wochenzeitung „Die Furche„, Monika Sommer, die Direktorin des Haus der Geschichte Österreich, Christoph Thun-Hohenstein, Generaldirektor des MAK und Martin Traxl, Hauptabteilungsleiter ORF-TV Kultur diskutieren die Frage, ob das digitale Gedächtnis Erinnerung überflüssig macht?

Das kulturelle Gedächtnis schützt uns vor dem (endgültigen) Vergessen

In einem schon 2007 veröffentlichten Blogbeitrag über „die Schweiz und ihre Volkskultur“ habe ich kurz zusammengefasst, was Jan und Aleida Assmann unter dem kulturellen Gedächtnis verstehen. Im Unterschied zum individuellen und kollektiven Gedächtnis ist das kulturelle Gedächtnis nicht nur in uns selbst angesiedelt, sondern objektiviert sich in Dingen wie Texten oder Bildern. Mit der Hilfe dieser Artefakte, wie beide es nennen, schützen sich die Gesellschaften vor dem Vergessen. Die Konservierung und Pflege der kulturellen Artefakte ist daher eine wichtige Voraussetzung für die Wirkungsweise unseres kulturellen Gedächtnisses.

Aleida Assmann unterscheidet außerdem zwischen dem Speicher- und dem Funktionsgedächtnis. Die im Funktionsgedächtnis aufgehobenen Artefakte sind durch Verfahren der Auswahl und Kanonisierung hindurchgegangen, was ihnen einen Platz im aktiven kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft sichert. Sie finden sich unter anderem auf den Spielplänen der Theater und Opernhäuser oder in den Ausstellungsräumlichkeiten der Museen.

Das Speichergedächtnis stellt Assmann zufolge eine Art kulturelles Archiv dar, in dem die materiellen Überreste vergangener Epochen aufbewahrt werden, zu denen wir den unmittelbaren Bezug verloren haben. Aleida Assmann spricht in diesem Zusammenhang von den „stummen Zeugen der Vergangenheit“, die dem Vergessen ausgeliefert sind. Und dann sind da noch die Artefakte, die auch aus dem Speichergedächtnis verschwunden sind. Sie sind für unsere Kultur verloren, sie existieren einfach nicht mehr.

Das Europäische Kulturerbejahr und das Speichergedächtnis

Wenn wir 2018 das europäische Kulturerbejahr feiern, geht es um das Speichergedächtnis, um das Hervorholen der Artefakte, die wir vergessen haben, die aber noch nicht ganz verloren gegangen sind. In ihrem Buch „Formen des Vergessens“ (Affiliate Link) schreibt Aleida Assmann:

„Das, woran wir uns erinnern, musste zeitweilig von der Bildfläche des Bewusstseins verschwunden sein. Erinnern ist ja gerade nicht (…) mit einem direkten Zugriff auf Wissen gleichzusetzen, sondern entspricht eher der Figur einer ‚Wiederholung‘ oder ‚Wiedererkennung‘ über zeitliche Intervalle hinweg.“
(in: Assmann, Aleida. Formen des Vergessens (Historische Geisteswissenschaften. Frankfurter Vorträge 9) (German Edition) (Kindle-Positionen131-133). Wallstein Verlag. Kindle-Version.)

Wer weiß, dass Erinnern Identität schafft, weiß auch, warum das europäische Kulturerbejahr so wichtig für Europa ist. Die Schwierigkeit besteht, so denke ich, aber darin, dass es diese Identität so noch gar nicht gibt. Wenn wir uns erinnern, dann geschieht das – meist – auf nationalstaatlicher Ebene. Es gilt also, diese Grenzen zu überwinden und gemeinsame Geschichten zu erleben und dann zu erzählen. In einem Interview für die Zeitung „Der Standard“ hat Aleida Assmann gesagt:

„Damit aus dem kulturellen Archiv ein Gedächtnis wird, muss es wieder zurückgebunden werden an individuelle Bedürfnisse, Funktionen und Gruppen, die sich damit identifizieren.“

Das Zurückbinden ist Aufgabe der Gesellschaft. Sie bestimmt, welche Inhalte aus dem Archiv hervorgeholt werden und uns wieder beschäftigen. Im Kulturbereich haben wir dafür Museen, Archive und andere Einrichtungen. Wer übernimmt diese Rolle im digitalen Raum, der unser Leben immer stärker prägt und beeinflusst? Schon heute wird Kunst immer häufiger digital gezeigt und gespeichert.Was aber geschieht, wenn wir nicht mehr analog, sondern digital speichern? Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung auf unser kulturelles Gedächtnis?

Über das digitale kulturelle Gedächtnis

„Delete Memory“ ist der Titel der heutigen Podiumsdiskussion, verbunden mit der Frage, ob das digitale Gedächtnis Erinnern überflüssig macht. „Delete Memory“, das ist die Löschtaste. Das sind die Inhalte, die vernichtet werden und aufhören zu existieren. Ob diese Inhalte analog oder digital vernichtet werden, spielt keine Rolle. Sie sind weg. Worin besteht dann aber der Unterschied? Vielleicht fällt es uns leichter, die „Delete“-Taste zu drücken als ein Bild wegzuwerfen? Aber das ist nur eine Vermutung.

Interessanter ist in meinen Augen der Unterschied, was die Aufbewahrung betrifft. Der Weg analoger Artefakte ist ein anderer. Während heute digital jeder praktisch alles abspeichern und online zur Verfügung stellen kann, sieht das im analogen Bereich anders aus. Es dauert, bis ein Artefakt auf die Bühne eines Theaters kommt, in einem Konzert gespielt wird oder in einer Ausstellung zu sehen ist. Es findet – idealerweise – eine Auseinandersetzung damit statt, bevor ein Artefakt dann in den Kanon aufgenommen wird (bei Assman ist das dann das Funktionsgedächtnis) und später in einem Archiv landet, aber im Speichergedächtnis erhalten bleibt.

KuratorInnen, DramaturgInnen, etc. spielen in diesen Prozessen eine sehr wichtige Rolle. Sie bewerten und wählen aus, sie entscheiden, welche Artefakte in das Speicher- und welche in das Funktionsgedächtnis gehören. Sie sind also mitverantwortlich dafür, was wir vergessen und woran wir uns erinnern. Wenn Erinnerung dazu führt, dass wir unsere Identität bewahren oder herausbilden können, wird auch klar, welch wichtige Rolle Kunst und Kultur eigentlich für das Funktionieren unserer Gesellschaft haben.

Diese kuratorische Kompetenz (sagt man das so?) fehlt uns im digitalen Raum, auch heute noch („Was das Internet von der Kunst lernen kann„). Darin sehe ich die große Chance für die Kultureinrichtungen. Dafür ist es aber notwendig, dass sie sich die notwendige digitale Kompetenz aneignen und verantwortungsvoll mit den digitalen Inhalten umgehen. Einfach den gesamten Bestand zu digitalisieren und dann online zu stellen, macht wenig Sinn. So wird das Internet eher zur digitalen Müllhalde.

Digitale KuratorInnen und künstliche Intelligenz

Interessant ist in meinen Augen die Frage, ob diese Aufgabe nur die Kultureinrichtungen übernehmen können. Besteht nicht die Möglichkeit, dass wir eines vielleicht gar nicht mehr so fernen Tages nicht mehr KuratorInnen, sondern Algorithmen entscheiden lassen? Frank Tentler würde das vermutlich bejahen. In seiner Geschichte von Vincent, einer holografischen Figur, funktioniert das auf individueller Ebene schon ganz gut. Vielleicht entscheiden künstliche Intelligenzen in Zukunft darüber, wo etwas im kulturellen Gedächtnis abgelegt wird?

In diesem Zusammenhang gibt es viele Fragen, die wir noch beantworten müssen. Nur drei Beispiele:

  • Wenn Erinnern Identität stiftet, welche Identität ist das dann? Die Österr. Nationalbibliothek archiviert beispielsweise alle Webseiten mit einer at.-Domain. Ist das die formale Klammer für die österr. (digitale) Identität? Wie sieht das auf europäischer Ebene aus?
  • Wer ist dafür verantwortlich, dass analoge kulturelle und künstlerische Artefakte digitalisiert und damit für die Nachwelt erhalten werden (Bild/Ton)? Und zwar langfristig? Ist der Aufwand nicht so groß, dass die kleinen Kultureinrichtungen dabei unter den Tisch fallen und deren Arbeit dann „vergessen“ wird? Und zwar endgültig im Sinne von „Delete Memory“. Unser kulturelles – digitales – Archiv würde dann nur die Artefakte großer Kultureinrichtungen umfassen.
  • Neben dem Format ist auch die Struktur wichtig, um die digitalen Inhalte nicht nur zu erfassen, sondern sie so zu speichern, dass die Chance besteht, sich ihrer wieder zu erinnern, sprich, sie wieder zu finden. Ohne Strukturvorgaben zu speichern würde bedeuten, sie zu vergessen, weil es reiner Zufall wäre, sie wieder zu entdecken. Wobei im analogen Bereich Zufallsfunde eine durchaus wichtige Rolle hinsichtlich des kulturellen Gedächtnisses spielen.

Vielleicht lassen sich in der heutigen Podiumsdiskussion ein paar Fragen beantworten. Hier noch einmal alle Informationen:

Update:

Hier finden Sie die komplette Aufzeichnung des DialogForum „Delete Memory!“


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Eine Antwort zu „Delete Memory: Über das digitale Gedächtnis“

  1. […] Europäisches Kulturerbejahr – digitales Gedächtnis – ein Friedenspreis und die Frage, ob das digitale Gedächtnis die Erinnerung überflüssig macht: https://kulturmanagement.blog/2018/06/14/delete-memory-ueber-das-digitale-gedaechtnis/ […]

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