Ich gebe es zu, an diesem Beitrag bin ich länger gesessen als an den anderen mittlerweile gut 1.500 Beiträgen in diesem Blog. “Transmedia Storytelling – die Kunst des digitalen Erzählens”, so lautet nicht nur die Überschrift dieses Blogposts, sondern das ist auch das Motto der diesjährigen stARTconference, die am 17. und 18. November in Duisburg stattfinden wird. Seitdem wir uns vor einem Jahr für dieses Thema entschieden haben, ist kein Tag vergangen, an dem sich nicht irgendjemand daran gemacht hat zu erklären, was Transmedia Storytelling ist. Als ich im Januar den Beitrag “In zwei Minuten wissen Sie, was Transmedia Storytelling ist” online stellte, habe ich es mir noch leicht gemacht und mit Hilfe eines Videos den Begriff zu erklären versucht.
So ganz ist das nicht gelungen, wie die Kommentare gezeigt haben. Rückblickend würde ich sagen, kratzt dieses Video nur an der Oberfläche von dem, was Transmedia Storytelling sein kann. Sein kann deshalb, weil sich heute viele Medienproduktionen damit schmücken, eine Geschichte transmedial zu erzählen. Aber eigentlich ist gar nicht so klar, wann wir von Transmedia Storytelling sprechen können und wann nicht.
Henry Jenkins definiert Transmedia Storytelling
Wer sich mit dem Thema beschäftigt, landet recht schnell bei einem Blogpost, das Henry Jenkins schon im Jahr 2007 geschrieben hat und den Titel “Transmedia Storytelling 101” trägt. Jenkins, derzeit Professor an der University of Southern California, hat darin eine Definition vorgeschlagen, die wohl auch heute noch Gültigkeit besitzt:
“Transmedia storytelling represents a process where integral elements of a fiction get dispersed systematically across multiple delivery channels for the purpose of creating a unified and coordinated entertainment experience. Ideally, each medium makes it own unique contribution to the unfolding of the story.”
Als er sich anfangs dieses Monats in dem Beitrag “Transmedia 202: Further Reflections” erneut mit dem Thema beschäftigte, konnte man darin zwar viel Neues lesen, die Definition blieb aber erhalten. Zerlegt man diese Definition, dann hat man da folgende Begriffe vor sich: Prozess, Fiktion, verschiedene Kanäle und so etwas wie ein Unterhaltungserlebnis (“entertainment experience”). Häufig wird daraus: ich erfinde eine unterhaltsame oder spannende Geschichte und erzähle sie mit Hilfe verschiedener Formate, z.B. im Wechsel von Text und Bild.
Storywelt statt Storytelling
Vielleicht ist der Begriff Transmedia Storytelling auch irreführend, denn strenggenommen geht es gar nicht um die eine Geschichte. Vielmehr gilt es, eine fiktionale transmediale Welt zu kreieren, in der Dinge passieren können, von denen die Autoren anfangs noch gar keine Ahnung haben. Jenkins spricht von einem Prozess und meint damit “a continuum of possibilities” und einen daraus resultierenden Fluss der Inhalte.
Dieser Fluss der Inhalte lässt sich auf unterschiedliche Art und Weise erzählen. Jenkins arbeitet in seinen beiden Beiträgen verschiedene Aspekte heraus, mit denen sich beschäftigen sollte, wer transmediale Welten entwerfen möchte. Ein wichtiger Aspekt ist die Erzählstruktur.
Vor allem das Fernsehen verdeutlicht die verschiedenen Möglichkeiten. Episodenhaften Serien, bei denen jede Folge abgeschlossen ist (siehe z.B. Tatort) stehen mehrteilige Filme gegenüber, deren Folgen sich unmittelbar aufeinander beziehen: Etwa die in den 1960er und 1970er Jahren gezeigten Durbridge-Mehrteiler. In beiden Fällen kommt aber auch das gegenteilige Element zum Tragen. So oder so besteht die Herausforderung darin, den Erzählstoff sinnvoll zu portionieren. Während früher, so Jenkins, das episodenhafte Erzählen im Vordergrund stand, habe vor allem das amerikanische TV in der jüngeren Vergangenheit mehr auf das serielle Erzählen gesetzt. Diese Entwicklung habe, so ist er überzeugt, das Publikum auf Transmedia Storytelling vorbereitet.
Die TV-Serie “Lost” als Beispiel für eine serielle Erzählstruktur
Ein Beispiel für diese Entwicklung ist die in den USA produzierte TV-Serie Lost, in der das serielle Element dominiert (siehe dazu: Verena Schmöllers Artikel “Further Instructions” in: “Durch das Labyrinth von LOST” (Affiliate Link)) . Interessant ist, dass die Ausstrahlung im deutschen Fernsehprogramm kein großer Erfolg war, während sich die DVD- und Blu-Ray-Editionen sehr gut verkauften. Untersuchungen, die belegen, dass sich der geringe Erfolg der TV-Serie auf die serielle Erzählstruktur und eine eventuelle Überforderung des Publikums zurückführen lässt, sind mir aber nicht bekannt.
“Most transmedia stories are highly serial in structure, but not all serials are transmedia,”
schreibt Jenkins und verweist an anderer Stelle auf die Bedeutung der Cliffhanger, die dazu dienen, verschiedene narrativ nicht abgeschlossene Folgen durch Spannungsaufbau kurz vor dem Ende einer Folge miteinander zu verknüpfen. Dadurch sollen die ZuseherInnen/LeserInnen dazu gebracht werden, die nächste Folge anzuschauen oder den nächsten Band zu lesen.
Serielles Erzählen bedeutet nicht lineares Erzählen
Serielles Erzählen bedeutet aber nicht automatisch, dass die Geschichte linear erzählt wird. Gerade der transmediale Sprung in ein anderes Format erlaubt auch zeitliche Sprünge, die in Form einer Backstory häufig in der Vergangenheit spielen und zum Beispiel zusätzliche Informationen über eine oder mehrere Charaktere enthalten. Möglich ist es etwa, zwischen zwei Staffeln einer TV-Serie einen der Charaktere ein Blog betreiben zu lassen, das in der Vergangenheit spielt und dessen Entwicklung skizziert.
Diese inhaltlich begründete Beziehung zwischen – in diesem Fall – den Folgen einer TV-Serie und den Beiträgen eines Blogs ist eines der Kennzeichen von Transmedia Storytelling. Diese inhaltliche Verschränkung ist nicht neu und folgt dem Prinzip der Intertextualität, das sich – wenig überraschend – nur auf das Textformat bezieht.
“Jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes,”
zitiert Wikipedia die bulgarisch-französische Psychoanalytikerin und Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Julia Kristeva, die diesen Begriff in der Beschäftigung mit Michail Bachtins Dialogizitätsmodell entwickelt hat.
Radikale Intertextualität und Multimodalität als Kennzeichen einer transmedialen Geschichte
Intertextualität (Jenkins spricht von “radically intertextuality”, erläutert diesen Begriff aber nicht weiter) verneint die interpretatorische Vormachtstellung der AutorIn und geht von einem Netzwerk an Texten aus, die erst durch die verschiedenen Verknüpfungen ihre wahre Bedeutung entfalten können. Transmedia Storytelling funktioniert nach dem gleichen Prinzip, beschränkt sich aber nicht nur auf ein (Text)-Format, sondern nutzt beliebig viele unterschiedliche Formate.
Unterschiedliche Formate erfordern aber einen unterschiedlichen Umgang:
“Each medium has different kinds of affordances – the game facilitates different ways of interacting with the content than a book or a feature film,”
schreibt Jenkins und führt in diesem Zusammenhang den von Gunther Kress geprägten Begriff der Multimodalität ein (siehe dazu: Gunther Kress: Reading Images: Multimodality, Representation and New Media). Kress, Professor für Semiotik, beschäftigt sich mit der Frage, wie die neue Komplexität von ‘Texten” verstanden werden kann. Kommunikation läuft immer häufiger über mehrere Kanäle gleichzeitig (multimodal) und benötigt neue Kompetenzen, die wir uns erst nach und nach aneignen müssen.
Erst die Kombination von “radically intertextuality” und “multimodality” macht aus einer Story eine transmediale Story. Aber auch nur dann, wenn beide Ansätze dazu verwendet werden, die Story anzureichern und verwendet in diesem Zusammenhang den vom Spielentwickler Neil Young eingeführten Begriff “additive comprehension”, der dazu dient,
“to refer to the ways that each new text adds a new piece of information which forces us to revise our understanding of the fiction as a whole.”
Damit schließt sich der Kreis, denn einen Satz vorher heißt es bei Jenkins:
“Ideally, each individual episode must be accessible on its own terms even as it makes a unique contribution to the narrative system as a whole.”
Transmedia Storytelling als Zusammenspiel komplexer Phänomene
Damit wären wir wieder bei der Erzählstruktur gelandet und der Herausforderung, die Story entsprechend zu portionieren und jedes seiner Einzelteile inhaltlich aufzuladen.
Wer Transmedia Storytelling lediglich als das Erzählen einer Geschichte mit Hilfe mehrerer Formate versteht, wird dem Begriff nicht gerecht. Henry Jenkins versteht darunter das Zusammenspiel verschiedener sehr komplexer Phänomene, das sich in folgender Formel darstellen lässt:
“radically intertextuality” + “multimodality” + “additive comprehension” = transmedia storytelling
Erst in diesem Fall dürfen wir von Transmedia Storytelling als der Kunst des digitalen Erzählens sprechen, wobei auch das erst die Grundformel ist.
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